Zunächst hier eine prinzipielle Darlegung, welche sowohl die vorhergehenden, als auch insbesondere die nachfolgenden Beiträge betrifft.
Zwischen dem normierten Recht, den fixierten rechtlichen Vorschriften und ihrer Verwirklichung, der Rechtsanwendung und Rechtspraxis, gibt es immer eine größere oder geringere Differenz. Das liegt in der Natur des Rechts: denn es besteht aus Soll-Vorschriften. Nirgends beschreiben die rechtlichen Vorschriften einen Ist-Zustand. (Deshalb gibt es übrigens auch – neben den rein juristischen Wissenschaften – auch das wissenschaftliche Gebiet der „Rechtstatsachenforschung“, die den Ist-Zustand des Rechtswesens untersucht.) Es ist offensichtlich, dass die Verwirklichung der gesetzlichen und anderen Rechtsvorschriften maßgeblich mit davon abhängt, ob auch die realen Voraussetzungen für ihre Verwirklichung geschaffen werden bzw. vorhanden sind.
Grundprinzip der Tätigkeit der Untersuchungsorgane des MfS war immer, auf der Grundlage und in Durchsetzung des DDR-Rechts ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen dem normierten Recht und der tatsächlichen Rechtspraxis herzustellen. Die Untersuchungstätigkeit im MfS entwickelte und vollzog sich ebenfalls in Abhängigkeit von realen Umständen und Bedingungen:
- Die Entwicklung der Rechtsverwirklichung in den Untersuchungsorganen der DDR war zunächst wesentlich bestimmt von den besatzungsrechtlichen Bestimmungen und Verhältnissen. Die aus der sowjetischen Besatzungszone hervorgegangene DDR war bei ihrer Gründung so eingeschränkt souverän wie die aus den drei westalliierten Zonen hervorgegangene BRD. Am 10. Oktober 1949 wurde aus der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Sowjetische Kontrollkommission. Daraus ging am 28. Mai 1953 die sowjetische Hohe Kommission hervor. Beide Institutionen kontrollierten die Einhaltung und Umsetzung des Potsdamer Abkommens und anderer alliierter Beschlüsse. Sie sorgten dafür, dass es keine den sowjetischen Interessen entgegenstehende Politik und Entwicklung in ihrer Besatzungszone geben konnte. Die Fortexistenz sowjetischer hoheitlicher Rechte und Funktionen in der DDR hatte für die Entwicklung und Tätigkeit der Staatsorgane der DDR (und damit selbstverständlich auch für das MfS und seine Untersuchungsorgane) eine durchaus praktische Bedeutung. Unmittelbarer Ausdruck der sowjetischen Präsenz war die Tätigkeit sowjetischer Berater auch in den Untersuchungsorganen. Sie unterstützten die Qualifizierung der anfangs unerfahrenen Untersuchungsführer(Anleitung in untersuchungstaktischen Fragen, Erziehung zu Gründlichkeit, Exaktheit und Ausdauer, Durchsetzung einer den kriminalistischen Regeln entsprechenden Protokollierung). Sie hatten damit – auch wenn das heute je nach Standpunkt unterschiedlich bewertet wird – einen erheblichen Anteil an den in den ersten Jahren erzielten Ergebnissen. Ihre Aufgabe bestand jedoch in erster Linie in der Durchsetzung sowjetischer Interessen und Standpunkte in der Tätigkeit der Untersuchungsorgane. Die Wahrnehmung hoheitlicher Funktionen zeigte sich auch darin, dass eingeleitete Strafverfahren gegen Bürger der DDR(abgesehen von der Vielzahl von ihnen selbst durchgeführter Strafverfahren) in einer Reihe von Fällen von sowjetischen Organen übernommen und die betroffenen Personen von sowjetischen Gerichten verurteilt wurden. Dass bereits die Einleitung von Verfahren auf maßgeblichen sowjetischen Einfluss hin erfolgte, liegt nahe. Wenn derartige Vorgänge heute beurteilt werden, ist es unumgänglich, den tatsächlichen Bedingungen Rechnung zu tragen, dass hinter den Hinweisen und Forderungen von sowjetischer Seite auch sehr reale Machtmittel standen.
- Die Entwicklung der Untersuchungstätigkeit war immer eng mit der Entwicklung des Rechts und der Rechtsauffassungen verbunden. Wesentliche Entwicklungslinien waren charakterisiert durch – den Beschluss des Ministerrates der DDR vom 27. März 1952, mit dem Generalstaatsanwalt der DDR die Aufsicht über die Tätigkeit der Untersuchungsorgane in Strafsachen übertragen worden war; – die erste Strafprozessordnung der DDR von 1952 und die Überwindung einer (auf sowjetische Einflüsse zurückgehenden) Überbewertung der Rolle des Geständnisses in Strafverfahren und die nunmehr verstärkte Ausrichtung der Praxis auf die umfassende und allseitige Prüfung der Möglichkeiten zur Gewinnung von Beweisen; – das Strafrechtsergänzungsgesetz von 1957; – die in den 1960er Jahren ergangenen Beschlüsse und Erlasse des Staatsrats der DDR zur Rechtspflege, die eine noch engere Zusammenarbeit der Justiz- und Sicherheitsorgane forderten und in deren Durchsetzung die vorbeugende Orientierung der Untersuchungsarbeit verstärkt, in breiterem Maße gesellschaftliche Kräfte einbezogen und nicht zuletzt auch die Rolle der Verteidiger im Strafverfahren weiter entwickelt wurden; – die Neukodifizierung des Straf- und Strafprozessrechts im Jahre 1968 entsprechend den veränderten gesellschaftlichen Erfordernissen und Bedingungen sowie der nachfolgenden Weiterführung der Entwicklung des Rechts auf den vorgenannten Gebieten.
- Wesentlich für die Untersuchungsarbeit war die Entwicklung des Personalbestandes der Untersuchungsabteilungen. Den Kern des Personalbestandes der Untersuchungsabteilungen bildeten zunächst vom MdI übernommene Kriminalisten, die in den Dienststellen »K5« und »D« erste Erfahrungen bei der Bearbeitung von Ermittlungsverfahren gesammelt hatten. Fundierte rechtliche und kriminalistische Qualifikationen waren infolge des vollständigen Personalaustausches bei der Zerschlagung des faschistischen Staatsapparates nur vereinzelt vorhanden. Obwohl von Anbeginn an eine intensive Kontrolle der Arbeit der Untersuchungsführer – auch von der Zentrale in den Ländern/Bezirken und durch entsprechende Anleitung seitens Vorgesetzter – zum durchgängigen Arbeitsstil gehörte, konnten Fehler und Unzulänglichkeiten besonders in der Beweisführung und in den taktischen Vorgehensweisen zunächst nicht vermieden und nur schrittweise reduziert werden. Gelegentlich profitierten Beschuldigte von diesen Schwächen. Trotz dieser komplizierten Bedingungen galt für die Untersuchungsorgane, die Würde von Betroffenen in Strafverfahren uneingeschränkt zu wahren und Gestrauchelten möglichst zu helfen, den Weg in die Gesellschaft zurückzufinden. Das entsprach nicht nur der Kontrollratsdirektive Nr. 11 zum Aufbau einer demokratischen Rechtsordnung in Deutschland. Es entsprach vor allem auch den Schlussfolgerungen, die Antifaschisten aus ihrer Leidenszeit in faschistischen Konzentrationslagern und Zuchthäusern gezogen hatten. Diese Erfahrungen fanden Niederschlag in der Verfassung und in den Gesetzen der DDR. Mit der Richtlinie Nr. 21/52 des Ministers für Staatssicherheit begann 1952 die ständige und systematische Breitenschulung im MfS, auf welcher auch fachspezifische Ausbildungsmaßnahmen für Untersuchungsführer aufbauten. Die juristische und fachliche Qualifizierung erfolgte kontinuierlich durch konkrete Anleitung und Kontrolle der Tätigkeit der Untersuchungsführer sowie durch Fachschulungen und Lehrgänge. Zunehmend wurden auch Absolventen von Universitäten und Fachschulen eingestellt. Und Untersuchungsführer erlangten auch in Direkt- und Fernstudien ihren Hochschulabschluss. Die Untersuchungsorgane verfügten schließlich in den letzten 20 Jahren über einen hohen Anteil von Mitarbeitern mit Hochschulabschluss – vor allem als Juristen und Kriminalisten.
- Schließlich wurde die Entwicklung der Untersuchungsarbeit wesentlich durch die Entwicklung der für sie bedeutsamen wissenschaftlichen Grundlagen und des entsprechenden wissenschaftlichen Vorlaufs bestimmt. Besonders aus der Rechtswissenschaft und der kriminalistischen Wissenschaft in der DDR wurden Erkenntnisse übernommen. Zunehmend wurden auch durch spezielle Forschungsarbeiten an der Juristischen Hochschule Potsdam des MfS(JHP) wissenschaftliche Ergebnisse für die Qualifizierung der Untersuchungstätigkeit gewonnen. Die Methoden der Anleitung und Kontrolle in den Untersuchungsorganen wurden differenzierter und qualifizierter. Gleichartige Entwicklungslinien in der Arbeit der operativen Diensteinheiten hoben die Zusammenarbeit mit diesen auf ein höheres Niveau. Hält man sich die vorgenannten inneren Entwicklungsbedingungen vor Augen, welche die Untersuchungstätigkeit wesentlich bestimmten, so darf das aber nicht ohne Sicht auf jene Bedingungen erfolgen, die sich aus der Härte des Kalten Krieges, aus den konkreten Angriffsrichtungen und Erscheinungsformen, Mitteln und Methoden der Geheimdienste und anderer gegnerischer Zentren, Einrichtungen und Kräfte und ihren Wirkungen auf Personengruppen und Personen in der DDR ergaben. Die Untersuchungsführer waren direkt mit hasserfüllten Feinden der DDR konfrontiert, die aus ihrer antikommunistischen Haltung keinen Hehl machten oder diese auch zu verbergen versuchten. Beschuldigte waren aber auch andere Personen, deren verdachtsbegründende Handlungen, Ziele und Motive oft erst nach intensiver Untersuchungstätigkeit den gesetzlichen Anforderungen entsprechend ermittelt werden konnten. Das alles brachte es mit sich, dass sich in der Untersuchungsarbeit auch Irrtümer und Fehler einschlichen, die zwar korrigiert wurden, die aber auch ihre Ursachen in den Formen und zeitlichen Zusammenhängen des Kalten Krieges und im jeweiligen Entwicklungsstand der Untersuchungspraxis hatten.
Text Karli Coburger und Dieter Skiba, bearbeitet von Petra Reichel
Entnommen aus dem Buch „Die Sicherheit“
Kann von dieser Website www.mfs-insider.de als gesamtes Buch oder einzelne Kapitel heruntergeladen werden.
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