Alle mit marxistisch-leninistischer Weltanschauung stehen in der Pflicht, nach der Niederlage das ganze politische Rüstzeuge, über das die SED verfügte, auf den Prüfstand zu stellen. Aber es sei hier noch einmal deutlich gesagt: Die dabei nötige Benennung von Defiziten muss absolut ausschließen, dass der Sozialismus und die DDR als solche in Zweifel gezogen werden.
Die marxistische Analyse darf kein Spielmaterial für DDR-Delegimitierende und Kriminalisierende beliebiger Art liefern.
Wer Dinge untersucht, muss davon ausgehen, dass im Rückblick alles viel einfacher und überschaubarer erscheint, als es auf die damaligen Akteurinnen und Akteure in deren konkreter Situation wirkte.
Und noch etwas ist zu beachten: Begangene Fehler dürfen nicht pauschal auf die gesamten 45 Jahre des Kampfes im Osten Deutschlands bezogen werden. Denn die einzelnen Entwicklungsetappen trugen durchaus unterschiedlichen Charakter und ihre jeweilige Spezifik. Was misslang, ging nicht wegen des Marxismus-Leninismus, sondern aufgrund der Abweichung von seinen Prinzipien schief.
Der Aufbau des Sozialismus in der DDR ging unter äußeren Bedingungen vor sich, die historisch einmalig waren (die Existenz eines potenten kapitalistischen Staates auf deutschem Boden, vorderste Frontlinie im Kalten Krieg, die Wirkung des XX. Parteitages der KPdSU und deren folgenden revisionistischen Erosion). Äußere Ursachen hatten also ein besonderes Gewicht. Die inneren Ursachen sind im dialektischen Zusammenhang damit sehr komplex und in den verschiedenen Entwicklungsetappen unterschiedlich wirksam geworden und schwer zu verallgemeinern.
Ein Kardinal-Fehler war die Vernachlässigung der ständigen Bewertung des tatsächlichen Bewusstseinstandes der Klassen und Schichten der DDR-Bevölkerung wie der eigenen Parteimitgliedschaft. Es gab die Neigung das Niveau des Bewusstseins zu überschätzen. Man hielt, wie Genosse Heinz Keßler bemerkte, an einer vereinfachten Sicht auf die Arbeiterklasse fest und beschränkte sich sogar auf die verbale Betonung ihrer Rolle als historisches Subjekt, ja man ging sogar zu einer Idealisierung über. Die Langzeitwirkung bürgerlicher Denk- und Verhaltensweisen wurde unterschätzt. Es gab Zeiten spürbarer Fortschritte bei der Bewusstseinsentwicklung in der zweiten Hälfte der 1950er in den 1960er Jahren. Doch Ende der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren kam es aus den oben beschriebenen Gründen zu Erosionen im Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse, unter der Jugend und bei der Intelligenz.
Das hatte zur Folge, dass bei anstehenden, komplizierten Aufgaben das Tempo willkürlich forciert wurde ohne Rücksicht auf den wirklichen Reifegrad der Partei und der Massen zu nehmen.
Die Notwendigkeit der Verstärkung der politisch-ideologischen Arbeit wurde in Beschlüssen hervorgehoben. Die Ideologie wurde jedoch immer deutlicher zur Dienerin der aktuellen Politik und inhaltlich immer stärker auf kurzfristige Ziele und tagespolitische Probleme gerichtet. Statt Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus kamen immer mehr Reden der Mitglieder des Politbüros und Parteibeschlüsse auf die Liste der von Teilnehmenden am Parteilehrjahr zu lesenden „Pflichtliteratur“. Dies scheint überhaupt ein Wesenswerkmal revisionistischer Aufweichungen zu sein: die Abkehr vom Grundlagenstudium und damit von Wissenschaftlichkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und Hinwendung zum Auswendiglernen aktueller (und natürlich opportunistischer und revisionistischer) strategischer Orientierungen der Führung. Das formell noch immer umfangreiche und differenzierte Instrumentarium der ideologischen Tätigkeit wurde im Formalismus erstickt, das Interesse der Parteimitglieder und der anderen Schichten der Teilnehmenden ließ nach, die Teilnahme zur Pflichtübung.
Während unter Walter Ulbricht die offene Diskussion und Polemik zu theoretischen Grundfragen geführt wurde, traten an deren Stelle abgelesene Monologe. Immer deutlicher wurde sichtbar, dass die erlebte Wirklichkeit im Gegensatz zu den ideologischen Thesen stand. Das führte zu nachlassender Glaubwürdigkeit der Partei unter den Mitgliedern und den parteilosen Massen.
Besonders die immer restriktiver werdende Informationspolitik der Medien stieß zu Recht auf Ablehnung. Schönfärberischer Aktionismus, dauernde Erfolgsmeldungen, Kampagnehaftigkeit und peinliche „Hofberichterstattung“ prägten zunehmend deren Bild.
Besonders verhängnisvoll war die defensive Reaktion auf die schon erwähnte, mit der Schlussakte von Helsinki ausgehende „Menschenrechtskampagne“ des Imperialismus. Dazu gehört auch das Dokument „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, dass 1987 zwischen SED und SPD unterzeichnet wurde und das sich als ein Einfallstor der Konterrevolution erweisen sollte.
Bei der Bewertung des Wirkens einer marxistisch-leninistischen Partei ist die Frage nach Niveau und Verfasstheit ihrer theoretischen Arbeit von Bedeutung. Die SED verfügte über leistungsfähige Theoriekapazitäten und besaß marxistisch gebildete Kader (Personal). Andererseits haben Erscheinungen wie die Leugnung und Unterschätzung von Widersprüchen im Sozialismus sowie der voluntarische Umgang mit der „Gesetzmäßigkeit“ eines Sieges (Unumkehrbarkeitsthese) fatale Wirkungen gehabt. Die parallel zum „Eurokommunismus“ anwachsende Tendenz revisionistischer Auffassungen in einige Theorie-Zentren wurden nicht erkannt oder nicht ernst genommen.
Der „Demokratische Zentralismus“ ist das von Lenin formulierte Organisationsprinzip einer marxistisch-leninistischen Partei. Als solche verstand sich die SED. Der schöpferische Umgang mit ihm war in ihrem Statut festgeschrieben. Ohne eine Praxis auf seiner Grundlage wären die Erfolge der SED bei der Führung der gesellschaftlichen Entwicklung nicht möglich gewesen. Aber der demokratische Zentralismus wurde im Kontext mit den konkreten Erscheinungen des Klassenkampfes und der Probleme mit dem von der KPdSU ausgehenden Revisionismus verzerrt angewandt. Die innerparteiliche Demokratie als entscheidende Voraussetzung wurde immer mehr eingeengt. Das führte zu einer unzulässigen Verschärfung bürokratisch-zentralistischer Tendenzen. Das Leninsche Vermächtnis von der Notwendigkeit des kompromisslosen Kampfes gegen diese Tendenzen blieb zunächst unbeachtet. Der Abbau der innerparteilichen Demokratie ging von oben aus und blieb zunächst an der Basis unbemerkt. Ein Kernproblem war dabei die Konzentration mannigfaltigen Wissens auf einen ausgewählten, begrenzten Kreis von Funktionären. Der Besitz dieser Informationen verlieh das Recht auf Entscheidungen und letztlich Macht. Das hatte Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Mitglieder und auf die Kollektivität in den Führungsorganen auf allen Ebenen.
Weitere Erscheinungen des Demokratieabbaus in der Partei:
-die Rechenschaftslegung des ZK an die Parteitage war unter Leitung von Walter Ulbricht garantiert; ab dem VIII. Parteitag gab es keine Rechenschaftslegung mehr;
-die zeitlichen Fristen zwischen den Tagungen des ZK wurden verlängert, die Sitzungsdauer verkürzt;
-die ZK-Sitzungen wurden immer mehr freigehalten von Auseinandersetzungen und Ringen um Entscheidungen, an deren Stelle traten „Zustimmungserklärungen“ und Bekenntnisse zur „Linie“;
-keine Rede auf Tagungen wurde gehalten, ohne dass sie der Führung bekannt war und durch sie „abgesegnet“ wurde;
-keine Berichterstattung einer Kreisleitung vor dem Politbüro, die nicht bis ins Detail vom Apparat des ZK kontrolliert wurde.
Verantwortliche, darunter die Original-Autoren dieses Beitrages wussten um diese Praktiken und ihren Widerspruch zum Statut. Warum haben sie nicht dagegen opponiert? Die einzig wirksame Gegenstrategie wäre die Mobilisierung der Kontrolle durch die Basis gewesen. Doch die Verantwortlichen, darunter die Original-Autoren dieses Beitrages befanden sich im Konflikt zwischen ihrer Verantwortung für die Einheit der Partei und der Parteidisziplin.
Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielte die Kadernomenklatur des ZK (Verteilung von Posten). Sie uferte im Laufe der Jahre immer mehr aus. Der Apparat des ZK entschied über Einsatz und Abberufung. Eine solchen Nomenklatur hat durchaus ihre Berechtigung und in komplizierten Klassenkampfsituationen ist auch eine zeitweilige Ausdehnung berechtigt. Aber im Grunde wurde zusammen mit dem „Laufbahnmechanismus“ das im Statut festgeschriebene Prinzip der Wahl der Kader(Personalauswahl) von unten nach oben auf den Kopf gestellt. Folgen dieser und anderer Tendenzen waren eine Aufweichung des kommunistischen Parteibewusstseins und das verstärkte Hochkommen des Karrierismus.
Es bleibt festzustellen: die Rechte und Pflichten der Parteimitglieder waren beträchtlich, wurden aber durch stetige Einengungen konterkariert. War es bis zum VIII. Parteitag üblich, dass turnusmäßig Beratungen des Politbüros mit den Ersten Sekretären der Kreisleitungen durchgeführt wurden, verkam diese Form des demokratischen Meinungsaustausches der Führung mit diesem Kreis der Basis-Funktionäre in eine Form der Disziplinierung. An Stelle regen Erfahrungsaustausches trat ein 5-stündiges Referat des Generalsekretärs, das den Ersten Sekretären danach gedruckt ausgehändigt wurde mit der Verpflichtung, es wörtlich vor dem Kreisparteiaktiv zu verlesen. Diskussionen darüber gab es nicht mehr.
In Zusammenhang mit diesen Tendenzen steht die Frage nach der Mitgliederstärke der Partei. Und die Frage: Wer kann Mitglied der Partei sein? Aus der Geschichte der KPdSU ist die prinzipielle Auseinandersetzung zwischen Lenin und Markow zum Punkt I des Statuts (zur Parteimitgliedschaft) bekannt. Lenins Standpunkt war, dass das Statut als „Grundgesetz der Partei“ exakt formuliert, wodurch ein Mitglied der Partei sich auszeichnen muss. Er wandte sich dabei gegen die Definition der Partei als „Massenpartei“. Lenin vertrat den Standpunkt, dass eine strenge Auswahl die zahlenmäßige Stärke der Partei bestimmen muss. Zitat: „…es ist besser, zehn Arbeiter bezeichnen sich nicht als Parteimitglied als dass ein Schwätzer das Recht und die Möglichkeit hat, Parteimitglied zu sein.“ Die zahlenmäßige Stärke der Partei wurde von ihm stets mit dem Bewusstseinsstand der Mitglieder und dem Parteierziehungsprozess in unterschiedlichen konkret-historischen Situationen gesehen. Er verwies auf den Zusammenhang zwischen zahlenmäßiger Größe der Partei und damit verbundener „unvermeidlicher Tendenz der Zunahme des Zentralismus“ und „organisatorischer Verschwommenheit“. Und Lenin sah die reale Gefahr, „dass die Versuchung, in die Regierungspartei einzutreten, riesig groß ist und damit Karrieristen in die Partei kommen“. 1922 stellte Lenin fest, dass die KPdSU mit 300 000 Mitgliedern entschieden zu groß sei und er forderte eine Verringerung der Mitgliederzahl. Als Weg dazu schlug er eine Verlängerung der Kandidatenzeit vor, „man müsse sie zu einer ernsthaften Probezeit“ gestalten, und er forderte, konkret festzulegen, worin das wirkliche Durchmachen der Kandidatenzeit bestehen und wie die Kontrolle darüber ausgeübt werden soll. Dieses Leninsche Vermächtnis wurde in der SED vor allem ab der Mitte der 1950er Jahre nicht mehr beachtet.
Mitgliederentwicklung der SED:
1946: nach Vereinigungs-Parteitag 1 298 415
1949: nach Gründung der DDR 1 603 754
1970: 1 904 026
1988: 2 300 000
Die Schieflage der Mitgliederentwicklung wird auch an solchen Fakten sichtbar wie dem, dass der Grad der Organisiertheit in der SED unter Pädagoginnen und Pädagogen 70 % betrug. Ähnlich war das unter der Intelligenz in den Industriegroßbetrieben. Die Kandidatenzeit wurde mehr und mehr zur Formalität. In den 1970er Jahren wurde sogar den Kreisleitungen der FDJ das Recht zuerkannt, eine Bürgschaft zu übernehmen. Auch die mehrfach durchgeführten Parteiüberprüfungen bzw. Umtauschaktionen der Mitgliedsbücher wurden nicht zu einer Parteireinigung genutzt und waren keine Schritte, um die Rolle der Partei als Avantgarde damit immer neu zu erringen. Die Auswirkungen auf die politisch-ideologische Festigkeit und Kampfkraft der Partei wurden bald sichtbar. Die Losung: „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei“ war zur reinen Agitationsphrase(Werbespruch) geworden.
Das vom IX. Parteitag veränderte Programm war Ausdruck einer vom realen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung geprägten Realitätsferne und hatte mit einer wissenschaftlichen, marxistischen Gesellschaftsperspektive nichts gemein.

Bild entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 10. Klasse, Stand 1981
Bild entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 10. Klasse, Stand 1981
Entnommen aus „Unter Feuer – Die Konterrevolution in der DDR“ Herausgeber OFFENSIV, Original-Autor dieses Beitrages ist Dip. Ing. ök Dieter Itzerott, Torgau in Kooperation mit dem Historiker Dr. Kurt Gossweiler, Berlin
Bearbeitet von Petra Reichel