Dieser Artikel spielte als unmittelbar im Ermittlungsverfahren angewandte Strafbestimmung mehrere Jahre eine dominierende Rolle für die Untersuchungsorgane. Der Artikel 6, Abs. 2, lautete: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze.“
Die erste Verfassung der DDR war 1949 als Verfassung für Gesamtdeutschland ausgearbeitet, der Öffentlichkeit vorgelegt und in Ost und West diskutiert worden. Am 30. Mai 1949 hatte der Deutsche Volkskongress, aus allgemeinen, geheimen und direkten Wahlen hervorgegangen , den bekannten Text des Entwurfs einer Verfassung für Gesamtdeutschland gebilligt.
Dass diese Verfassung einer (gesamtdeutschen) Deutschen Demokratischen Republik dann im Oktober zu einer Verfassung des östlichen deutschen Staates wurde, lag weder in der Absicht der Autoren dieses Verfassungstextes, noch an den maßgebenden politischen Kräfte in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ).
Dass es dazu kam, war die Folge der Spaltung Deutschlands durch die westlichen Alliierten und ihre westdeutschen Gefolgsleute, voran Adenauer. Nach der Bildung der Bizone und dann der Trizone in Westdeutschland war der alles entscheidende Schritt zur Spaltung Deutschlands die einseitige Währungsreform im Westen des Landes im August 1948. Die Notwendigkeit einer Währungsreform für ganz Deutschland nach dem Ende des Hitlerregimes war unzweifelhaft. Deshalb verhandelten die Außenminister der Besatzungsmächte. Die USA hatten jedoch schon längst ihre eigenen Pläne. Im Jahre 1947 wurden neue (äußerlich dem Dollar ähnliche) Banknoten gedruckt und in einer militärischen Geheimaktion nach Deutschland gebracht. Während die Außenminister noch über Inhalt und Modalität der Währungsreform verhandelten, landeten die USA den Coup einer einseitigen Währungsreform in ihrem Machtbereich. Über Nacht wurden Milliarden Reichsmark im Westen wertlos – während sie in der SBZ zunächst noch Gültigkeit behielten und daher unkontrolliert in den Osten gebracht werden konnten.
Diese Tatsache – wie auch im Beitrag zur Sicherung der Volkswirtschaft der DDR beschrieben – fügte der Wirtschaft und den Bürgern der SBZ einen gewaltigen Schaden zu. Die sowjetische Besatzungsmacht und die Behörden in der SBZ mussten gegen die drohende Gefahr eine Notlösung finden: auf die Reichsbanknoten wurden „Coupons“ geklebt, was wahrlich weder eine übliche noch zuverlässige Art der Emission von Banknoten darstellte.
Ebenso einseitig wie die gegen die SBZ gerichtete Währungsreform war die Anordnung der westlichen Besatzungsmächte, aus den drei Westzonen einen westdeutschen Staat zu machen, der die fünf Länder der SBZ ausdrücklich ausnahm.
Mit der Bildung dieses westdeutschen Staates geriet die sowjetische Besatzungsmacht mit ihrer Besatzungszone erneut in Zugzwang. Ebenso verlangten die neuen antifaschistisch-demokratischen Kräfte in der SBZ als Antwort auf die separate Staatsbildung einen eigenen Staat, der am 7. Oktober 1949 nach Umwandlung des deutschen Volksrates in die Volkskammer der DDR ausgerufen wurde.
Der in ganz Deutschland lange diskutierte und vom Deutschen Volksrat gebilligte Entwurf der Verfassung einer gesamtdeutschen Deutschen Demokratischen Republik wurde schließlich als Verfassung des ostdeutschen Staates in Kraft gesetzt. Ganz gewiss dachte im Jahre 1949 niemand daran, dass damit die Verfassungsbestimmung des Art. 6, Abs. 2 bis 1957/58 als grundlegende Staatsschutzbestimmung der DDR große Bedeutung haben würde. Als jedoch die DDR gegründet war und sich – als von westlicher Seite gehasster und als feindlich angesehener Staat – massiven kriminellen Anschlägen aller Art ausgesetzt sah, hatte die DDR-Justiz zu prüfen, welche strafrechtlichen Mittel zu deren Abwehr und strafrechtlicher Verfolgung zur Verfügung standen.
Die Staatsschutzbestimmungen des Hitlerstaates waren durch die Alliierten, nämlich durch Gesetz Nr. 11 des Kontrollrates vom 30. Januar 1946 (Amtsbl. des Kontrollrats, S. 55) aufgehoben worden. Deshalb entstand “mit der Einleitung des Prozesses der Wiederherstellung deutscher Souveränität “ – wie auch vom Bundesgerichtshof im Urteil vom 16. November 1995 (StR 747/94) zugestanden – ein „in West und Ost empfundenes Bedürfnis nach Staatsschutznormen“.
Im Westen Deutschlands hatte man in Hinblick auf die geplante separate Staatsbildung in Gestalt des Art. 143 Grundgesetz ausdrücklich eine Staatsschutzbestimmung geschaffen. Am 30. August 1951 verabschiedete der Bundestag das 1. Strafrechtsänderungsgesetz mit Strafbestimmungen gegen Hoch- und Landesverrat und – diese stark erweiternd – neu entwickelte Strafbestimmungen der sogenannten Staatsgefährdung, die man als „gewaltlosen Hochverrat“ bezeichnen könnte. Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach erklärte dazu in ihrem Vortrag am 15.12.1993 vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, dass es „ein politisches Strafrecht“ gewesen sei, „mit weitgefassten Tatbeständen“. Dieses vorverlegte die Schwelle der Strafbarkeit sehr weit in den Bereich bloßer Vorbereitungshandlungen. Mit der subjektivierten Struktur der Staatsgefährdungsdelikte, die erst durch die staatsgefährdende Absicht zum Straftatbestand erhoben wurden, öffnete man ein Einfallstor für richterliche Gesinnungsforschung. Dann haben die Gerichte, vornean der 3. Strafsenat des BGH, jene Normen extensiv ausgelegt. Wer sich als Kommunist betätigte, konnte bestraft werden, stellte A. von Brünneck in seinem 1978 erschienen Buch „Politische Justiz gegen Kommunisten in der BRD 1949-68“ fest. Ziel dieser politischen Strafjustiz war es, jeden Versuch eines politischen Kontakts mit Organen oder Institutionen der DDR im Keim zu ersticken. Ob der raschen Durchsetzung dieses Gesetzes erhielt es, wie schon erwähnt, die Bezeichnung „Blitzgesetz“. Diese Staatsschutzbestimmungen und besonders die darauf gestützte Strafverfolgungspraxis gerieten wegen ihrer rechtsstaatlichen Bedenklichkeit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zunehmend unter Druck, wie Jutta Limbach meinte: „Die vorerwähnten strafrechtlichen Exzesse sind zunehmend Gegenstand öffentlicher Kritik geworden.“ Es dauerte bis 1968, bis nicht nur die kritikwürdige Strafverfolgungspraxis, sondern auch Gesetze geändert wurden.
Die DDR zeigte sich zögerlich mit der Schaffung neuer Staatsschutzbestimmungen. Es fehlten nicht nur die theoretischen Grundlagen für die Erarbeitung von Staatsschutzstrafvorschriften in einer antifaschistisch-demokratischen Gesellschaft; zudem war zu Beginn des Bestehens der DDR noch nicht absehbar, welche Formen die Staatsverbrechen unter den ungewöhnlichen Bedingungen in Deutschland annehmen würden. Andererseits wurden die Untersuchungsorgane und die Staatsanwälte der DDR, wie beschrieben, mit höchst gefährlichen feindlichen Aktivitäten konfrontiert, deren strafrechtliche Beurteilung neu durchdacht und geprüft werden musste. Dazu gehörten Spionage, Sabotage, Anschläge auf Vertreter der Staatsmacht und engagierte Politiker der DDR, die nicht lediglich als gewöhnliche Körperverletzung, Totschlag oder Mord zu beurteilen waren. Dazu gehörten auch verschiedene Formen staatsfeindlicher Hetze.
Alle derartigen Anschläge waren erkennbar darauf gerichtet, die DDR ökonomisch und politisch zu schwächen und letztlich zu beseitigen, das heißt die von Adenauer geforderte „Befreiung der Ostzone“ herbeizuführen. Die sich aus derartigen Staatsverbrechen ergebenden Rechtsfragen waren – bis entsprechende Strafgesetze erlassen waren – von dem gemäß Art. 126 Verf./DDR (1949) neu geschaffenen Obersten Gericht der DDR zu prüfen, zu beurteilen und letztlich zu entscheiden, und zwar unverzüglich, um die soeben ausgerufene DDR nicht schutz- und wehrlos zu lassen. Dieses Gericht war – wie seinerzeit auch der BGH – in erster und auch in letzter Instanz zuständig für Staatsverbrechen.
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Im Unterschied zur westdeutschen Gerichtsbarkeit setzte sich das Oberste Gericht der DDR aus Juristen zusammen deren antifaschistische Haltung ausgewiesen war. Darunter waren auch eine Reihe von Juristen, die während der Zeit des Faschismus vor allem in westlicher Emigration insbesondere auch im angelsächsischen Rechtskreis lebten.
Diese Richter wandten in entsprechenden Strafverfahren bei Staatsverbrechen auf wirtschaftlichem Gebiet die Strafbestimmung des SMAD-Befehls 160, z. T. auch Art. III A III der Kontrollrats-Direktive 38 an, so im DCCG-, im Moog- und im Solvay-Prozess.
Nach gründlicher Erörterung und vielen Diskussionen im Kreis der Juristen, wie Beteiligte berichten, erklärte der 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR in seiner Entscheidung vom 4. Oktober 1950 (1Zst (I) 3/50), dass auch der Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung eine unmittelbar anwendbare Strafbestimmung sei.
Diese juristische Erkenntnis stützte sich zum einen darauf, dass nach Art. 144 der Verfassung „alle“ ihre Bestimmungen „unmittelbar geltendes Recht“ waren, und die in dieser Strafvorschrift beschriebenen Handlungen „Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“ sind.
Art. 6 Abs. 2 enthielt somit nicht lediglich einen an die Volkskammer adressierten Gesetzgebungsauftrag, die Volkskammer hatte mit der Annahme der Verfassung die Strafbestimmung des Art. 6 Abs. 2 selbst als solche unmittelbar in Kraft gesetzt. Auch genügte diese Strafbestimmung den an ein Strafgesetz zu stellenden Anforderungen. Durch ausdrückliche Verweisung auf das Strafgesetz („Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“) war nicht nur die juristische Qualität solcher Handlungen als Verbrechen definiert; es war auch der Strafrahmen genau bestimmt, denn nach § 1, Abs. 1 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) waren Verbrechen solche Handlungen, die mit dem Tode oder mit Zuchthaus bedroht waren. Die Zuchthausstrafe war ihrerseits durch § 14 RStGB als lebenslängliche oder als zeitige, von einem bis fünfzehn Jahren bestimmt. Des weiteren enthielt Art. 6 Abs. 2 eine Beschreibung des nach dieser Vorschrift strafbaren Handelns, z. T. unter Verwendung geläufiger Begriffe, im übrigen in der Form unbestimmter auslegungsfähiger Rechtsbegriffe. Insoweit enthielt auch Art. 6 Abs. 2 – wie andere Straftatbestände mit unbestimmten Rechtsbegriffen auch – einen Auftrag an die Gerichte, diese im Gesetz allgemein gehaltenen Rechtsbegriffe im Wege der Rechtsprechung auszufüllen.
Der „Ostrechts“-Experte Reinhard Maurach stellte fest, dass die Strafbestimmung des Art 6 Abs. 2 Verfassung/DDR (1949) zum einen durch die Verweisung auf § 1, Abs. 1 RStGB hinsichtlich der Strafandrohung den Anforderungen an ein Strafgesetz genüge, zum anderen, was die tatbestandliche Beschreibung der strafbaren Handlungen betreffe, diesen Anforderungen, wenn gleich nur teilweise, genüge, so noch durch die Verwendung der Begriffe „Mordhetze gegen demokratische Politiker“, „Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass“ und „militaristische Propaganda“. Nach seiner Meinung erfüllten lediglich die Tatbestandsmerkmale „alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten“ (dieses Merkmal hat ohnehin in der Strafrechtssprechung der DDR keine Rolle gespielt) und „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen“ diese Anforderungen nicht. (Warum Maurach diese in ihrer Ausdrucksweise deutliche und anschauliche Beschreibung von strafbarem Handeln als für ein Strafgesetz nicht genügend ansieht, ist schwer nachzuvollziehen.) Wesentlich aber ist, dass selbst Maurach, wahrlich kein Freund der DDR, im Grundsatz an der Strafvorschrift des Art. 6 Abs. 2 Verfassung/DDR (1949) nicht viel auszusetzen hatte.
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Dem erwähnten Auftrag, die im Art. 6 Abs. 2 Verf./DDR (1949) allgemein, bzw. unbestimmt gefassten Tatbestandsmerkmale auszufüllen, stellte sich das dafür vor allem zuständige Oberste Gericht der DDR. Bei seiner personellen Zusammensetzung waren die Richter des Obersten Gerichts bemüht, den Verfassungsauftrag des Schutzes der DDR auf juristisch zulässige und einwandfreie Weise zu erfüllen.
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Erstmals wurde Art. 6, Abs. 2 Verf./DDR (1949) im Verfahren gegen Funktionäre der Organisation „Zeugen Jehovas“ angewandt, die in einer zentralistisch straff geleiteten Organisation mit Sitz in Brooklyn (USA) und einem Sitz in Wiesbaden (BRD) Spionage und Kriegshetze betrieben hatten. Das Oberste Gericht stellte in seiner Entscheidung klar, dass die Angeklagten nicht wegen ihrer Religionsausübung, sondern – abgesehen davon, dass sie die Gesetze der DDR nicht anerkannten(„Zeugen Jehovas“ erkennen keinen weltlichen Staat, bzw. keine weltlichen Gesetze an) – wegen ihrer verbrecherischen Boykott- und Kriegshetze zur Verantwortung gezogen wurden. Von besonderer und weitreichender Bedeutung war in dieser Entscheidung, dass der Strafsenat des Obersten Gerichts auch die an sich der Sache nach unzweifelhafte Spionagetätigkeit der „Zeugen Jehovas“ unter den Art. 6 Abs. 2 Verf./DDR (1949) subsumierte. Diese Hintergründe werden stets verschwiegen, wenn angeprangert wird, dass die „Zeugen Jehovas“ in der DDR verboten waren. Wie war es möglich, dass die prinzipientreuen und frommen „Zeugen Jehovas“ gegen eines ihrer wichtigsten Prinzipien verstoßen haben? Sie erkennen keine weltliche Staatsmacht an, aber hier haben sie für die USA Spionage getrieben. Nach ihren eigenen Prinzipien müssten sich die „Zeugen Jehovas“ weigern für irgendwen, folglich auch für die USA, Spionage zu betreiben. Ebenso verstößt es gegen die eignen Prinzipien der „Zeugen Jehovas“ Kriegshetze zu betreiben. Die Staatsmacht USA dürften die „Zeugen Jehovas“ auch nicht anerkennen. Die „kleinen“ Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft sind friedliche, harmlose und ehrliche Leute. Es war kontraproduktiv diese Religionsgemeinschaft als Ganzes zu verbieten. So war und ist das „Wasser auf die Mühlen“ der Anti-DDR-Propaganda im Westen. Man hätte die Spione und Kriegshetzer ausfiltern und bestrafen sollen. Dazu sie damit konfrontieren, dass sie gegen Prinzipien ihrer eigenen Religionsgemeinschaft verstoßen haben, aber die Religionsgemeinschaft als Ganzes legal lassen sollen. Ein Geheimdienst ist dazu da zu beobachten, ob sich Spione, Kriegshetzer usw. in dieser oder einer anderen Religionsgemeinschaft tummeln, um ihr schädliches Werk zu betreiben und gegebenenfalls auszufiltern und zu ergreifen. Die „Zeugen Jehovas“ waren Verfolgte des Faschismus. Als antifaschistischer Staat hätte die DDR hier sensibler vorgehen müssen. Mit dem Verbot der „Zeugen Jehovas“ gab es wiederum Stoff für die Propaganda des Westens gegen die DDR. Die Gelichsteller von Sozialismus und Faschismus wurden dadurch bestärkt, anstatt bekämpft.
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Die Richter dieses Strafsenats argumentierten, ohne dass dies so im einzelnen den Urteilsgründen zu entnehmen ist, wie folgt: Kriegshetze ist ein Verbrechen nach Art. 6 Abs. 2 Verf./DDR (1949), ein Staatsverbrechen; die festgestellte Spionage in der Form der Informationsbeschaffung dient der Kriegsvorbereitung. Wenn schon die bloße verbale Kriegshetze ein Staatsverbrechen ist, muss die tätige Kriegsvorbereitung in Gestalt der Spionage als ein viel schwerwiegenderes staatsverbrecherisches Tun erst recht ein Staatsverbrechen nach Art. 6, Abs. 2 Verf./DDR (1949) sein. Juristisch nennt man diese geläufige Argumentation das „argumentum a minori ad majus“ – Auslegung/Schluss vom Niederen zum Höheren, vom Kleineren zum Größeren.
Es sei kurz auf die Frage der Abgrenzung der von Art. 6 Abs. 2 Verf./DDR (1949) erfassten Verbrechen zur straflosen Meinungsäußerung eingegangen, zumal in dieser Vorschrift ausdrücklich festgelegt wurde, dass die „Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung … keine Boykotthetze“ sei. Nicht zufällig bezieht sich diese Abgrenzung nur auf Boykotthetze; denn Mord- und Kriegshetze, Glaubens- oder Völkerhass bzw. militaristische Propaganda können niemals Ausübung demokratischer Rechte sein.
In keinem Staat gilt die Meinungsfreiheit unbeschränkt. Art. 9 der Verfassung der DDR von 1949 gewährte dieses Grundrecht allen Bürgern „innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze“ (fast gleichlautend heißt es in Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz der BRD: Die Meinungsfreiheit „findet ihre Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze“).
Das Recht auf Meinungsfreiheit erlaubt – auch in der BRD – weder Beleidigung noch üble Nachrede oder Verleumdung, keine Verunglimpfung von Verfassungsorganen oder staatlichen Symbolen, und schon gar nicht Volksverhetzung oder „Anreizen zum Klassenkampf“, Billigung, Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen des Faschismus, Anleitung zu Straftaten usw. . Diese Gesetze werden in der heutigen Groß-BRD als Gesinnungsstrafrecht angewendet.
In der DDR war die Grenze der Ausübung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung überschritten, wenn der Betreffende in Wort und Schrift gegen die verfassungsmäßige Ordnung vorging. Sicher kann im Einzelfall immer streitig sein, wann diese Grenze überschritten war, und kein Staat ist davor sicher, dass es bei dieser überall gebotenen und legitimen Grenzziehung nicht aufgrund der jeweiligen Situation zu Fehlbeurteilungen durch verschiedene Behörden kommt. Davor waren auch die betreffenden Organe der DDR nicht frei – zumal die noch ungefestigte DDR sich damals – wie beschrieben – in einer sehr komplizierten sicherheitspolitischen Lage befand.
Man mag heute darüber streiten, ob seinerzeit der Staatsschutz der DDR nicht durch eine andere, bessere rechtliche Gestaltung hätte bewältigt werden sollen und können – hinterher ist jeder klüger. Allerdings muss gegenüber verschiedenen Kritikern der strafrechtlichen Verfolgung von Staatsverbrechen, auch auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 2 Verf./DDR (1949), deutlich gesagt werden: Eine Kritik, die darauf hinausläuft, der DDR jeden strafrechtlichen Staatsschutz zu versagen, und von ihr zu erwarten, sie hätte sich gegenüber allen Anschlägen auf ihre Existenz schutz- und wehrlos zeigen sollen, ist absolut nicht hinnehmbar. Schließlich soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass selbst der 5. Strafsenat des BGH bei aller Kritik am Art. 6 Abs. 2 Verf./DDR (1949) zu der Erkenntnis gelangte, dass „die bloße Anwendung“ dieser Strafbestimmung noch keine Rechtsbeugung ausmache.
Nachdem dann im Laufe der Zeit in der DDR hinreichende Voraussetzungen geschaffen und strafjustizielle Erfahrungen gesammelt worden waren, wurde, wie schon erwähnt, mit dem Strafrechtsergänzungsgesetz (StEG/DDR) von 1957 ein neues, geschlossenes Staatsschutzstrafrecht der DDR geschaffen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die politische Führung der DDR im Jahre 1952 Mut bewies, wie das von Rechtsexperten nicht nur der DDR eingeschätzt wurde, als sie einen sehr stark an das sowjetische Strafrecht angelehnten Entwurf eines sozialistischen Strafgesetzbuches der DDR in die Archive verbannte.
Ein neues Strafgesetzbuch gab es in der DDR erst ab dem Jahre 1968.
Text: Karli Coburger und Dieter Skiba, bearbeitet von Petra Reichel
Entnommen aus dem Buch „Die Sicherheit“
Das gesamte Buch oder einzelne Kapitel kann von der Website www.mfs-insider.de heruntergeladen werden.
Original-Text
Zur Rolle des Artikels 6 Abs. 2 der Verfassung der DDR (1949)