Volksbewegung und herrschende Klassen im Kampf um die nationalstaatliche Einigung Deutschlands

Der Aufschwung der Volksbewegung

Hervorgerufen durch die Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche, steigerte sich seit Ende der 1850er Jahre die politische Aktivität aller Klassen in Deutschland. Große Teile des deutschen Volkes traten in den Kampf um die demokratische Einigung Deutschlands ein.

Die Feiern zum 100. Geburtstag Friedrich Schillers im November 1859 wurden zu einem Höhepunkt der Volksbewegung. Im Hamburg demonstrierten 17 000, in Frankfurt am Main 8000 Menschen, in Berlin waren es Zehntausende Handwerker und Arbeiter.

Schillerfeier auf dem Gendarmenmarkt in Berlin am 10. November 1859.(Zeitgenössische Darstellung)
Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1982

In den Turn-, Wehr- und Schützenvereinen, in der Sängerbewegung gewann die demokratische Volksbewegung organisatorische Formen. Bis 1862 entstanden 1284 Turnvereine. 55 Prozent der Mitglieder waren Handwerker, 14 Prozent Arbeiter und Bauern, die übrigen Kaufleute, Lehrer Studenten und Schüler.

Der Aufschwung der Volksbewegung zeigte die Bereitschaft des Volkes, die Einigung Deutschlands von unten zu verwirklichen. Aber die Bourgeoisie fürchtete die Volksmassen. Als Ausbeuterklasse war sie trotz aller Unterschiede und Gegensätze mehr mit dem Junkertum als mit den Volksmassen verbunden. Statt die feudalen Zustände durch eine Revolution zu beseitigen, steuerte die Bourgeoisie auf ein festes Klassenbündnis mit dem Junkertum hin.

Im Jahre 1859 entstand als gesamtdeutsche Organisation der Bourgeoisie der Deutsche Nationalverein. 1862 zählte er bereits 25 000 Mitglieder. Arbeiter konnten nicht Mitglied werden.

Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1982

Im Jahre1861 schuf sich die preußische Bourgeoisie die Deutsche Fortschrittspartei. Sie trat ebenfalls für die Einigung Deutschlands durch Preußen ein und für einen größeren Einfluss der Bourgeoisie auf die preußische Politik.

In der Volksbewegung gewann die Arbeiterklasse eine besondere Stellung. Trotz scharfer Verfolgung hatte die Reaktion nach 1848 die Organisationsbestrebungen der Arbeiter nicht brechen können. Immer wieder bildeten sich örtliche Fachvereine und Hilfskassen von Arbeitern gleicher Berufe. Über 800 solcher Fachvereine der Maurer, Buchdrucker, Tabakarbeiter, Zimmerleute usw. bestanden.

Die Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie zeigte sich in den Streikkämpfen, die besonders seit 1857 zunahmen. Im Jahre 1857 fanden mehr Streiks statt als in den fünf Jahren davor zusammengenommen. Ökonomische Kämpfe und politische Auseinandersetzungen um die demokratische Einigung Deutschlands förderten das selbständige Auftreten der Arbeiterklasse als politisch selbstständige Kraft. Seit dem Ende der 1850er Jahre entstanden in vielen Städten Arbeiterbildungsvereine. 1860 bestanden ungefähr 50, 1862 schon 100 solcher Vereine. Im Unterschied zu den Wehr- und Turnvereinen waren die meisten ihrer Mitglieder Arbeiter, und zwar der unterschiedlichsten Berufe. Von der Bourgeoisie gegründet, um qualifizierte Facharbeiter heranzubilden und die Arbeiter im bürgerlichen Sinne zu beeinflussen, wurden sie jedoch von den Arbeitern mehr und mehr zur Verständigung über ihre sozialen und politischen Interessen genutzt. So trat in ihnen bald der politische Gegensatz der Arbeiterklasse zur Bourgeoisie in den Vordergrund.

Versammlung eines Arbeiterbildungsvereins in den 1860er Jahren.(Zeitgenössisch Darstellung)
Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1984

Die „Blut und Eisen“-Politik Bismarcks in den 1860er Jahren

Die Zuspitzung der Widersprüche löste in Preußen eine politische Krise aus. Auf ihrem Höhepunkt wurde der Junker Otto von Bismarck im Jahre 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Sein Ziel war die Niederwerfung der demokratischen Volksbewegung und die Vorherrschaft Preußens in Deutschland. Dieses Ziel wollte er mit allen Mitteln der Politik, nach seinen eigenen Worten sogar mit „Blut und Eisen“, erreichen.

Otto Fürst von Bismarck (1815 bis 1898). Seit 1862 war er als Preußischer Ministerpräsident entscheidend an der Einigung Deutschlands auf undemokratischem Wege beteiligt. (Fotografie 1871)
Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1982
Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1982

Bismarck wollte der sich entwickelten Volksbewegung zuvorkommen und so die preußische Monarchie und die weitere Herrschaft des Junkertums überhaupt retten. Andererseits erkannte Bismarck aber auch, dass die weitere kapitalistische Entwicklung nicht aufzuhalten war. Deshalb versuchte er, mit Hilfe des junkerlich-militaristischen preußischen Staates die dringendsten Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung zu befriedigen. Gleichzeitig wollte er aber verhindern, dass die Bourgeoisie die politische Macht gewann. Er nutzte dabei die Furcht der Bourgeoisie vor den Volksmassen aus. Der Verrat der Bourgeoisie an der Nation und am gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichte es ihm, seine Pläne in die Tat umzusetzen.

Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1982

Im Jahre 1864 versuchte Dänemark, sich Schleswig-Holstein anzueignen. Das deutsche Volk protestierte. Schon forderten Arbeiter und bürgerliche Demokraten in Volksversammlungen die Volksbewaffnung. Erste Freiwilligenverbände bildeten sich. Die Herrschenden in Preußen und auch in Österreich befürchteten einen revolutionären Volkskrieg, der sich nicht nur gegen Dänemark, sondern auch gegen die deutschen Fürsten richten könnte. Um dies zu verhindern, erklärten die Regierungen Österreichs und Preußens selbst den Krieg. Dänemark wurde im deutsch-dänischen Krieg schnell besiegt. Die Siegermächte besetzten Schleswig und Holstein.

Im Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland war Österreich der stärkste Gegner Preußens. 1866 führte Bismarck den Krieg mit Österreich herbei. Im preußisch-österreichischen Krieg schlug das preußische Heer die österreichischen Truppen in der Schlacht bei Königgrätz in Böhmen. Damit war der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland entschieden. Österreich schied aus dem deutschen Staatenverband aus.

Durch den Verrat der Bourgeoisie konnte Bismarck die Entscheidung über den Weg zu einem einheitlichen Nationalstaat gegen die demokratischen Kräfte herbeiführen.

Im Ergebnis des preußisch-österreichischen Krieges wurde im Jahre 1967 unter Vorherrschaft Preußens der Norddeutsche Bund gegründet. Ihm gehörten 21 Kleinstaaten und Freie Städte an. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes wurde durch allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht gewählt. Die tatsächliche Macht im Bunde besaß jedoch der preußische König. Die Regierungsgeschäfte des Norddeutschen Bundes führte der preußische Ministerpräsident.

Der Norddeutsche Bund
Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1982

Die süddeutschen Länder (siehe Karte) blieben auf Grund eines Einspruches des französischen Kaisers Napoleon III., der eine Verschiebung der politischen Macht in Europa zuungunsten der französischen Bourgeoisie fürchtete, und aus Misstrauen gegen Preußen außerhalb des Norddeutschen Bundes.

Nach dem Sieg über Österreich sprach die preußische Bourgeoisie Bismarck im preußischen Abgeordnetenhaus ihr Vertrauen aus. Damit gab sie offiziell ihren historischen Anspruch auf die Führung der Nation preis.

Entnommen aus dem Geschichtsbuch der DDR für die 8. Klasse, Stand 1982, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Text aus dem Geschichtsbuch der DDR