Einführung
Neben der direkten Konfrontation und Kriegsdrohung, gab es auch die indirekte Strategie gegen die sozialistischen Länder vorzugehen. Die indirekte Strategie führte zum Erfolg.
Das Besondere an der Kalten-Kriegs-Führung war in seiner zweiten Phase, dass sich das Bewusstsein seines Stattfindens sich auf sozialistischer Seite verlor. Denn nur die Annahme, dass die antisozialistischen Ziele zugunsten einer Status-Quo(aktueller Zustand)-Politik zurückgestellt wurden, konnte die Illusion einer dauerhaften Burgfriedens der Systeme, ihres friedlichen Zusammenwirkens im beiderseitigen Interesse stützen. Unter dieser Voraussetzung war die Herausbildung eines revisionistischen Bewusstseins in den kommunistischen Parteien möglich und folglich ihre längerfristige Sozialdemokratisierung durchführbar. Die indirekte Strategie war eine Form des antisozialistischen Klassenkampfes unter dem Schein des internationalen Klassenfriedens.
Die Umstellung auf die indirekte Strategie erforderte grundlegende Veränderungen in der Kalten-Kriegs-Führung insgesamt. Bedingt durch die Hoffnung auf eine friedliche Welt war man sich nicht dessen bewusst, dass es sich nicht um das Ende des Kalten Krieges handelte. Der Kalte Krieg wurde nun verdeckt geführt.
Die unverhüllt antikommunistischen Thesen waren nicht mehr praktikabel, weil sie nicht mehr der damaligen Stimmung in den sozialistischen Ländern entsprachen. Zum damaligen Zeitpunkt wünschte man sich nicht die Rücknahme der sozialistischen Gesellschaftsordnung, sondern nur „Reformen“. Dass der Begriff „Reform“ heute nichts Gutes beinhaltet, begann damals. Die These, dass die unvernünftige Gegnerschaft der Systeme endlich aufhören müsse und es stattdessen darum zu gehe, sich in gemeinsamer Anstrengung den Weltproblemen zu widmen, erfreute sich außerordentlicher Popularität. (auch in kommunistischen Parteien westlicher Länder) Die sozialistische Propaganda hatte selbst dazu beigetragen, dass derartige Argumentationen im sozialistischen Lager nicht mehr als feindliche durchschaut wurden.
Ein Ziel der indirekten Strategie war die Zerstörung des einheitlichen sozialistischen Wirtschaftsraumes. Die mit der wissenschaftlich-technischen Revolution verbundenen Probleme konnten nur eine wesentliche Erweiterung der Zusammenarbeit und Arbeitsteilung gelöst werden, also durch ökonomische Integration. Fehlte diese, mussten die ökonomischen Prozesse dazu führen, dass die einzelnen sozialistischen Länder in Abhängigkeit vom großflächig integrierten kapitalistischen Wirtschaftsraum gerieten, was den Zerfall des sozialistischen Lager beschleunigen musste. So ist es ja auch geschehen.
Weitere Ziele waren die Auflösung des marxistischen Bewusstseins in den kommunistischen Parteien und die Wiederherstellung der bürgerlichen ideologischen Hegemonie(Vorrang, Vormachtstellung) über die Bevölkerung der sozialistischen Länder. Die „Liberalisierung“ in der Innenpolitik bewirkte, dass der Einfluss bürgerlicher Denkmuster erheblich wuchs. Durch kulturelle Zusammenarbeit mit dem Westen und Kulturaustausch hatte der Westen wesentlich bessere Möglichkeiten des ideologischen Einwirkens. Der positive und vernünftige Anteil solcher Kulturaustauschprogramme blieb dabei immer mehr auf der Strecke. Eine solche „Liberalisierung“ musste binnen kurzem die sozialistische ideologische Hegemonie in der Bevölkerung der sozialistischen Länder untergraben.
Im Interesse der politischen Stabilität waren die regierenden kommunistischen Parteien gezwungen, ein ständig steigendes Konsumniveau zu gewährleisten. Die sozialistischen Länder wurden noch abhängiger von der wirtschaftlichen „Hilfe“ des Westens, als bislang. Teile der Führungsriege der regierenden kommunistischen Parteien auf die sozialdemokratische/reformerische Seite zu ziehen und die Randstaatenpolitik, d.h. einzelne sozialistische Länder aus dem Verbund herauszubrechen und Konterrevolutionen auszulösen, waren Methoden der indirekten Strategie.
Je fortgeschrittener der Verfall der offiziellen Ideologie, desto wehrloser waren die sozialistischen Länder in der ideologischen Kriegsführung des Kalten Krieges. Der Rückhalt der kommunistischen Parteien in der eigenen Bevölkerung wurde folglich schwächer und der Handlungsspielraum der kommunistischen Parteien immer enger.
Folglich setzt die indirekte Strategie einen konterrevolutionären Kreislauf in Gang. Dieser beginnt mit scheinbar harmlosen Zugeständnissen. Einmal in Gang gebracht wurden die sozialistischen Systeme Schritt für Schritt in Auflösung und Verfall herabgezogen.
Der Stratege der USA, Zbigniw Brzezinski legt in seinem Buch „Alternative zur Teilung – Neue Möglichkeiten für eine gesamteuropäische Politik“(Verlag: Kiepenheuer & Witsch, Köln, Berlin 1966)die indirekte Strategie dar.
Vorgeschichte
Die Politik der BRD gegenüber der DDR war auf Konfrontation gerichtet. Neben der direkten Konfrontation und Kriegsdrohung, gab es auch die indirekte Strategie gegen die sozialistischen Länder vorzugehen. Die indirekte Strategie führte zum Erfolg.
Der Konfrontationskurs wurde von den USA nicht mehr mitgetragen. Als Kennedy Präsident der USA wurde, kam aus den USA das Konzept der „strategy of peace“(„Strategie des Friedens“)
Die SPD war die Partei der BRD die sich zu Beginn der 1960ern Jahren das Konzept von Kennedy „strategy of peace“(„Strategie des Friedens“) zu Eigen machte. Sie formulierte daraus ihre Strategie des „Wandels durch Annäherung“, die zur Basis der außenpolitischen Orientierung wurde. Die Begründung dieser Strategie lieferte Egon Bahr in seinem Referat vor der Evangelischen Akademie Tutzing am 15. Juli 1963. Als Kern Kennedys „Friedensstrategie“ bestimmt er: „Die amerikanische Strategie des Friedens lässt sich auf die Formel definieren, dass die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden soll. Die Änderung des Ost-West-Verhältnisses, das die USA versuchten, dient der Überwindung des Status Quo, indem der Status quo nicht verändert werden soll. Das klingt zwar paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat. Die vorläufige Respektierung des Status Quo durch den Westen war die unfehlbare Voraussetzung für die indirekte Strategie; denn nur in einer Atmosphäre der Stabilität konnte damit gerechnet werden, dass der Osten sich westlichen Eindringungsversuchen öffnete.
Schwerpunkt der Darlegungen von Bahr war die Übertragung der amerikanischen Strategie auf die „Deutschlandpolitik“ der BRD.
Die Konfrontationsstrategie machte die innere Aufweichung der DDR und somit ihre Beseitigung unmöglich, anstatt sie zu fördern. Auch Bahr plädiert für die Nichtanerkennung. Diese dürfe aber nicht zum Vorwand für eine Politik werden, die jegliche Beziehungen boykottiere. Bahr plädiert für die Verstärkung des Ost-West-Handels. Auch eine daraus folgende Hebung des Lebensstandards in der DDR käme der westlichen Strategie entgegen. Denn mit der Hebung des Lebensstandards stabilisiere sich auch der machtpolitische Staus quo und damit werden ideologische Zugeständnisse an den Westen eher möglich. Außerdem war intensiver wirtschaftlicher Austausch geeignet, Abhängigkeitsverhältnisse zu schaffen. Diese gaben dem Westen nun die Möglichkeit unmittelbar und nicht mehr über den Umweg der Sowjetunion auf die inneren Verhältnisse der DDR einzuwirken. Zunächst ging es um Stabilität und Veränderung in kleinen Schritten, von denen jeder einzelne harmlos schien, die aber in ihrer Gesamtheit über eine längere historische Frist ihre antisozialistische Wirkung unaufhaltbar entfalteten.
Mit der Übertragung der „Friedensstrategie“ auf die Politik der BRD befassten sich auch sämtliche Reden und Aufsätze Willy Brandts aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre. Auch sein Ausgangspunkt war der innere Erosionsprozess im sozialistischen Lager.
Mit Bahr und Brandt hatte sich die SPD zu Beginn der 1960er Jahre zwar auf den Standpunkt begeben, dass die indirekte Strategie auch in den Beziehungen der BRD zur DDR angewandt werden sollte, doch seinerzeit wurde diese Position wenig konkretisiert.
Nichtanerkennung, Alleinvertretungsanmaßung, Verweigerung der Gleichberechtigung bei Verhandlungen, waren damals die Regierungspolitik der BRD gegenüber der DDR. Daran hielt seinerzeit auch die SPD fest. Es blieb unklar, in welcher Intensität und bis zu welcher Ebene Kontakte zwischen Behörden der BRD und der DDR befürwortet wurden und was „die Schwelle der Anerkennung“ überschreitend ausgeschlossen blieb.
Im Jahre 1965 kam erneut Bewegung in die Debatte in der BRD. Diese erhielt ihren Anstoß von zwei Seiten. Erstens durch den Ägypten-Besuch von Walter Ulbricht. Ab da bröckelte die Hallstein-Doktrin. Der zweite Anstoß gab ein Artikel Kissingers, der 1965 in der „Zeit“ erschien und an Adenauers Programm zur Annexion der DDR anknüpfte. An diesen Artikel schloss sich eine längere Debatte von „Zeit“-Autoren an. In deren Rahmen wurde die Strategie der späteren Brandt-Scheel-Regierung in ihren Grundzügen entwickelt und begründet.
Erst seit der Amtsübernahme von Kiesinger-Regierung(damalige Große Koalition) kann von einer Neuen Ostpolitik Bonns gesprochen werden. In Kiesingers Regierungserklärung wurde erstmals festgehalten, dass nicht „Wiedervereinigung“, sondern die „Entspannung“ das vorrangige Ziel der Bonner Politik darstelle. Die Kiesinger-Regierung (damalige Große Koalition) hatte begriffen, dass die Förderung der opportunistischen Tendenzen im sozialistischen Lager auf dem Wege einer „Ost-West-Entspannung“ zugleich der sicherste Weg war, in der Frage der inneren Aufweichung und schließlichen Liquidierung der DDR voranzukommen.
Doch blieben auch unter Kiesinger die zwei Kernelemente der „Deutschlandpolitik“ Adenauers erhalten. Die Bonner Alleinvertretungsanmaßung und die strikte Nichtanerkennung der DDR.
Die Entwicklung in der Tschechoslowakei seit 1967 besaß für die BRD den Status eines Modellversuchs. Es wurden die Möglichkeiten ausgeprobt über die Sozialdemokratisierung der regierenden kommunistischen Parteien und über die Ost-West-„Annäherung“ in den sozialistischen Ländern bürgerliche Verhältnisse wieder herzustellen. In der CSSR hatte diese Strategie zunächst beachtlichen Erfolg. Nicht nur die KPC war weitgehend auf einen sozialdemokratischen Kurs umgeschwenkt. Die Entwicklung erreichte einen Punkt, an dem der Status Quo im sozialistischen Lager ernsthaft erschüttert zu werden drohte und in der CSSR die Konterrevolution kurz bevorstand. Genau in diesem Augenblick unterband die Sowjetunion die weitere Entwicklung. Die Niederwerfung der Prager Konterrevolution durch sowjetische Truppen löste in Bonn eine erneute Debatte über die ostpolitische Strategie aus. Diese führte zu einer Differenzierung innerhalb der Großen Koalition. Die SPD begann das Konzept des „Wandels durch Annäherung“ zu konkretisieren.
Mit dem Prager Misserfolg rang sich endgültig die Einsicht durch, dass die Ostpolitik der BRD nur dann reale Chancen besaß, wenn sie den Beziehungen zur Sowjetunion das Primat einräumte. Die Bonner „Randstaatenpolitik“ – d.h. die Einwirkung auf bestimmte osteuropäische Staaten, unter Umgehung der Sowjetunion, hatte sich als nicht praktikabel erwiesen. Ein grundlegender „Wandel“ in Osteuropa setzte einen „Wandel“ in der Sowjetunion voraus. Ein solcher konnte wiederum nur durch einen Kurs der „Annäherung“ an die Sowjetunion herbeigeführt werden. Nur über diesen Weg ließen sich Möglichkeiten der westlichen Einflussnahme herstellen.
Gegen Ende der damaligen Großen Koalition begann die SPD eine eigenständige Ostpolitik zu verfolgen. Einen wichtigen Partner fanden die Sozialdemokraten der BRD bei der Kommunistischen Partei Italiens. Die KPI eröffnete der SPD Wege, auf informeller Basis zu den Parteispitzen in Moskau und Osteuropa Kontakt aufzunehmen. Ein wesentlicher Gegenstand dieser informellen Verhandlungen war die Frage der legalen Neukonstituierung einer kommunistischen Partei in der BRD. Dieses Bonner Zugeständnis war im Rahmen der indirekten Strategie unerlässlich geworden. Durch diese Neukonstituierung konnte das in den Augen der SPD größere Übel, die Aufhebung des Verbotsurteils der KPD, vermieden werden. (1968 wurde die DKP gegründet)Ferner signalisierte die SPD über den Kanal der KPI der sowjetischen Führung, dass sie im Gegensatz zur Linie der Großen Koalition bereit war, den territorialen Status quo in Europa zu respektieren und den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen. Im Gegenzug dazu dürfte sie auch schon ihre Forderungen in Bezug auf eine Veränderung der politischen Linie der SED angemeldet haben.
Ein „Wandel durch Annäherung“ bezogen auf die Sowjetunion und auch ein sowjetisches Einverständnis zu politischen Veränderungen in der DDR konnte allerdings nicht durch die Politik der BRD allein herbeigeführt werden. Zu den Voraussetzungen der Ostpolitik der späteren Brandt-Scheel-Regierung gehörte ein unmittelbarer Rückhalt seitens der USA.
Auch der sowjetisch-chinesische Konflikt trug dazu bei, dass die Sowjetunion Zugeständnisse machte. Die damalige weltpolitische Situation schaffte das internationale Umfeld für die Ostpolitik der Brandt-Scheel-Regierung.
Die Ostpolitik der Brandt-Scheel-Regierung
Anfang 1969 wurde eine Studie des Politischen Clubs(Vereinigung von Bundestagsabgeordneten verschiedener Parteien) veröffentlicht. Diese Studie benannte den Kern der politischen Strategie, nach der die im Herbst desselben Jahres gebildete Brandt-Scheel-Regierung ihre Politik ausrichten sollte. In der Studie wurde wieder die indirekte Strategie dargelegt. Z.B. dass dem langfristigen Ziel kurzfristig erreichbare Zwischenziele vorgeschaltet werden müssen, der Gesamtprozess in Teilstrategien aufgesplittet werden muss, die europäische Situation so zu verändern, dass in einer veränderten Konstellation sich auch die Situation BRD und DDR anders darstellt. Es sollen Entwicklungen angestoßen werden, die das Problem in einen anderen Zusammenhang bringen. Der Ansatzpunkt für eine Politik, die auf Veränderung zielt, ist jener im allgemeinen als Entspannung bezeichnete Prozess der Auflockerung der Fronten und Abhängigkeitsverhältnisse, die sich in Europa nach dem zweiten Weltkrieg herausgebildet haben. So erschien die Erwartung nicht unbegründet, dass im Ablauf dieses Prozesses ein Punkt erreicht werden könnte, wo sich „die deutsche Frage“ in einem anderen Gesamtzusammenhang neu stellt und neue Antworten möglich werden. Dazu gehört, dass die BRD sich voll in dem europäischen Auflockerungsprozess engagiert und sich in keinem Bereich als hemmender Faktor erweist. (Z.B. Sicherheits- bis zur Kulturpolitik). Dazu gehört die Einsicht mit den sozialistischen Staaten zu kooperieren, wozu der Versuch gehört die beiden deutschen Staaten in den Auflockerungsprozess einzubeziehen.
Mit dem hier gekürzt wiedergegebenen Kern der Studie sind die Grundzüge der Brandt-Scheel-Regierung benannt.
Die damals neue Koalition (SPD/FDP) bemühte sich um „Vertrauenswerbung“ in Osteuropa und intensivere wirtschaftliche und politische Kontakte. Zugleich ging die Brandt-Scheel-Regierung daran, die selbstgeschaffenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die einen überzeugenden Erfolg der Ostpolitik der BRD bisher verhindert haben.
Die entscheidende Neubestimmung der sozialliberalen Koalition war die Respektierung des territorialen Status Quo in Europa. (Anerkennung der Grenzen nach dem zweiten Weltkrieg, keine Gebietsansprüche in Osteuropa) Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre haben gelehrt, dass dies die Voraussetzung für ein erfolgreiches Hineinwirken in die sozialistischen Staaten war. Der Übergang auf den Standpunkt einer de facto( nach Tatsachen, in Wirklichkeit) Anerkennung der DDR war die Konsequenz dieser Handlung. Mit der meistbeachteten Passage der Regierungserklärung von Willy Brandt, in der er feststellte, dass zwei Staaten in Deutschland existieren, gab die BRD die Position auf die Staatsqualität der DDR zu verneinen. Bislang wurde die DDR nicht als Staat, sondern als Gebilde, Ostzone und dergleichen gesehen.
Erst seit diesem Zeitpunkt konnte die Formel von Egon Bahr, dass wer den Status quo verändern wolle, ihn zuerst respektieren müsse, konsequent auf die DDR angewandt werden.
Erst damit waren die Voraussetzungen geschaffen für die Realisierung der Zwei-Phasen-Taktik zur Liquidation(Auflösung/Beseitigung)der DDR.
Die Anerkennung der Staatsqualität der DDR war gleichbedeutend mit der Respektierung des machtpolitischen Status quo in Deutschland durch die BRD. Mit diesem Schritt wurde ein wesentliches Hindernis der bisherigen Verhandlungen BRD-Sowjetunion über eine innere Aufweichung der DDR ausgeräumt. Denn solange die BRD den machtpolitischen Status Quo in Frage stellte, war nicht zu erwarten, dass die Sowjetunion sich darauf einlassen würde, die DDR zu einem opportunistischen Kurs und einer weitergehenden Westöffnung zu nötigen.
Das Scheitern der bisherigen „Deutschlandpolitik“ musste die BRD nun eingestehen. Die Strategie der Kontaktintensivierung gegenüber der DDR hatte nur dann Realisierungschancen, wenn der DDR Verhandlungen auf der Basis der Gleichberechtigung angeboten wurden.
Die de facto Anerkennung stärkte die opportunistischen Kräfte innerhalb der SED und schwächte folglich den innenpolitischen Rückhalt für den Kurs von Walter Ulbricht, sich dem westlichen Einwirken durch immer striktere Abgrenzung zu entziehen. Nur eine Politik der zumindest formellen Gleichberechtigung konnte daher eine Öffnung der DDR für Eindringungsversuche durch die BRD herbeiführen.
Auf die Artikulierung der Alleinvertretungsanmaßung der BRD wurde künftig verzichtet. Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR blieb ausgeschlossen.
In ihrer Strategie bei der Politik gegenüber der DDR stand die sozialliberale Koalition konsequent auf der Position jenes Stufenprogramms, über das in den 1960er Jahren debattiert wurde. Das heißt die Nahziele der Politik der BRD, die in nächster Zeit über Verhandlungen zu realisieren galt, waren:
- erste Schritte in Bezug auf eine Westöffnung der DDR- mit dem Ziel zunehmender Abhängigkeit gegenüber der BRD;
- Eine innere Liberalisierung der DDR – mit dem Ziel, den Konsolidierungsprozess in der DDR(Stärkung der DDR) zu stoppen.
Beides wiederum sollte
- Einer „Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls“ in (Gesamt-)Deutschland dienen – d.h. der Wiederherstellung der bürgerlichen ideologischen Hegemonie über die Bevölkerung der DDR.
Zusammengefasst war es das Nahziel der Brandt-Scheel-Koalition: die deutsche Zweistaatlichkeit in einer für den Westen günstigeren Weise zu gestalten, und zwar so, dass nicht nur weitere Positionsgewinne der DDR verhindert, sondern die Entwicklungen zugunsten des Westens umgekehrt wurden. Das Konzept zur Zersetzung der DDR wurde in die Gesamtstrategie zur allmählichen inneren Aufweichung der osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion eingebunden. Die Bonner Planer waren sich dessen bewusst, dass es ohne Erfolg bei der Sowjetunion nicht zu einem Erfolg bei der DDR – d.h. zur Liquidierung der DDR, geführt werden konnte.
Zur indirekten Strategie gehörte auch, dass der ideologische Krieg(man kann auch sagen Propagandakrieg) entsprechend angepasst wurde. Die antisozialistischen Ziele wurden nicht mehr wortwörtlich benannt. So wurde in Bezug auf die BRD und die DDR gesagt, dass es keine Wiedervereinigungsmöglichkeit mehr gäbe. Die Beibehaltung der Zweistaatlichkeit Deutschlands wurde als realistische Politik eingeschätzt und für vernünftig befunden. Doch in Wirklichkeit wurde das Ziel, die DDR zu annektieren, niemals aufgegeben.
Zu den Neuerungen der Brandt-Scheel-Koalition gehörte des weiteren die Abkehr von der Hallstein-Doktrin, bzw. ihre Modifizierung(Abwandlung, Änderung, Korrektur) zur „Scheel-Doktrin“.
Da diese Doktrin den außenpolitischen Handlungsspielraum der BRD selbst einengte, wurde bereits Mitte der 1960er Jahre gefordert die Hallstein-Doktrin aufzugeben. Seither haben immer mehr nichtsozialistische Staaten die DDR völkerrechtlich anerkannt. Es war absehbar, dass mit der Anerkennungswelle eine Entwicklung in Gang gekommen war, deren Aufhalten nicht mehr in der Macht der BRD lag. So drohte mit der Beibehaltung der Hallstein-Doktrin anstelle der Isolierung der DDR, eine Selbst-Isolierung der BRD. Insbesondere von der FDP war während der letzten Jahre der damaligen Großen Koalition die bedingungslose Aufgabe dieser nicht mehr praktikablen Hallstein-Doktrin gefordert worden.
Die Brandt-Scheel-Regierung verzichtete allerdings zunächst keineswegs völlig auf das Instrumentarium der Hallstein-Doktrin. Sie folgte jenem Konzept, das in den Debatten Mitte der 1960er Jahre als das Optimale für die BRD entwickelt worden war. Die Nichtanerkennung war nicht mehr geeignet Mittel der Realisierung des langfristigen Ziels, der Annexion der DDR, zu sein. Es wurde umfunktioniert in ein Mittel zur Realisierung der Nahziele der Politik der BRD, also die innere Aufweichung und Westöffnung der DDR. Funktionieren konnte dieses Konzept, weil die Solidarität der meisten osteuropäischen Regierungen mit der DDR gebrochen werden konnte. Insbesondere die sowjetische Regierung wurde von der BRD unter Druck gesetzt, welche wiederum Druck auf die DDR ausübte, sich auf entsprechende Verhandlungen mit der BRD einzulassen. Ulbricht hatte stets den Standpunkt vertreten, dass es sich bei der Aufgabe der Alleinvertretungsanmaßung der BRD um eine Vorbedingung für Verhandlungen handelte. Er hatte daher Verhandlungen über dieses Thema strikt abgelehnt.
Auf Betreiben der sowjetischen Führung musste Ulbricht zurücktreten und es erfolgte 1971 der Wechsel zu Honecker.
Dadurch, dass die DDR darauf einging, ihre Außenbeziehungen über den Umweg deutsch-deutscher Verhandlungen zu regeln, konnte die Anerkennungswelle vorübergehend tatsächlich gestoppt werden. Für die Drittstaaten stand nun fest, dass sie in absehbarer Zeit ihr Verhältnis zur DDR klären konnten, ohne Konflikte mit der BRD heraufzubeschwören. Die Logik außenpolitischer Vernunft riet ihnen abzuwarten. So konnte Scheel auf die Frage, ob der von der BRD errichtete Damm gegen die internationale Anerkennung der DDR bröckele, im Mai 1970 zufrieden feststellen, dass viele Länder, die mit dem Gedanken spielten mit der DDR diplomatische Beziehungen aufzunehmen, ihr Vorhaben wegen des deutsch-deutschen Dialogs wieder zurückgestellt haben.
In den Jahren der damaligen Großen Koalition hatte sich gezeigt, dass eine aktive Ostpolitik ohne oder gar gegen Moskau nicht durchführbar war. Die Einführung eines opportunistischen Kurses in der DDR war nur über sowjetische Einflussnahme zu erreichen. So erhielt die Regelung der Beziehungen zur Sowjetunion absolute Priorität. Unmittelbar nach ihrer Bildung kündigte die Brandt-Scheel-Regierung einen Termin für den Beginn offizieller Verhandlungen zwischen der BRD und der Sowjetunion über „Gewaltverzicht“ an. Dabei kam die damals neue Regierung der BRD der Sowjetunion in zwei Punkten entgegen: in der Hinnahme des europäischen Status Quo und in der (vorläufigen) Hinnahme des Status Quo in der deutschen Zweistaatlichkeit. Außerdem wurde ein Vertrag im Interesse der „Vertrauenswerbung“, sowie zur Anregung sowjetischer Konzessionsbereitschaft am 28. November 1969 der Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet.
Schließlich formulierte die Brandt-Scheel-Regierung eine grundsätzlich positive Haltung zu der von sowjetischer Seite angestrebten europäischen Sicherheitskonferenz. Das erfolgte aus zwei Gründen.
Erstens war auf westlicher Seite das Umfunktionieren der angestrebten Sicherheitskonferenz im Sinne der indirekten Strategie längst begriffen worden.
Zweitens konnte die BRD die Zustimmung zum Konferenzprojekt als Druckmittel einsetzen und im Gegenzug entsprechende Forderungen an die sowjetische Führung richten. Das Eingehen der DDR auf das westdeutsche Stufenprogramm der „Wiedervereinigung“ und der Zustimmung der BRD zum sowjetischen Konferenzvorschlag wurde oft und sehr deutlich formuliert.
Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition war, stärker noch, als die der Regierung Kiesinger, eingebettet in die einheitliche Gesamtstrategie der westlichen Verbündeten. Seit der Amtsübernahme der Regierung Nixon in den USA haben sich die Bedingungen für eine solche Einheitsstrategie wesentlich verbessert. Auf einer NATO-Tagung Anfang Dezember 1969 wurde der erfolgreiche Abschluss der Verträge zwischen der BRD und der Sowjetunion, sowie eine für den Westen zufriedenstellende Westberlin-Regelung zur Vorbedingung für eine westliche Beteiligung an der europäischen Sicherheitskonferenz erklärt.
Ein erster realer Erfolg gelang der Brandt-Scheel-Regierung mit dem Abschluss des Moskauer Vertrages im Sommer 1970. In ihm wurde die Hinnahme des europäischen Status Quo durch die BRD formalisiert. Die BRD konnte sogar den Begriff „Anerkennung“ vermeiden. Die eigentliche Bedeutung des Vertrages bestand darin, dass sich die sowjetische Führung auf die westliche Strategie „Wandel durch Annäherung“ einließ. Dem Moskauer Vertragswerk kam vor allem eine vorbereitende Funktion zu: die in ihm vertraglich fixierte Anerkennung des europäischen Status Quo durch die BRD war die Voraussetzung für die weitergehende sowjetische Konzessionsbereitschaft, insbesondere in Bezug auf die DDR. Zugleich besaß der Vertrag eine wichtige ideologische Funktion bezogen auf die osteuropäischen kommunistischen Parteien und die Bevölkerung der Sozialistischen Staaten. Der Vertrag demonstrierte die scheinbare „Friedenfähigkeit“ und Staus-Quo-Begnügung der BRD und trug so dazu bei im Osten „Feindbilder“ abzubauen und die Illusionen vom „Ende des Kalten Krieges“, von einer anbrechenden Periode friedlicher, systemübergreifender Kooperation zu bestärken.
Der zweite (und entscheidende) Erfolg der sozialliberalen Koalition war der Abschluss des Grundlagenvertrages. Auch dieser wäre ohne sowjetische Einflussnahme nicht in der vorliegenden Form zustande gekommen. Westberlin-Abkommen und der Grundlagenvertrag zwangen die DDR vertraglich zu einer weitgehenden Öffnung gegenüber der BRD. Dies betraf
- die Ausweitung des Besucherverkehrs aus der BRD
- das war das Entscheidende– eineunverantwortliche Intensivierung der wirtschaftlichen, technischen sowie der sogenannten „kulturellen“ Beziehungen zur BRD.
Im Grunde waren mit beiden Verträgen die Nahziele des Stufenprogramms der BRD zur Liquidierung der DDR erreicht.
Das Zwei-Phasen-Konzept zur Liquidierung der DDR war also für die Brandt-Scheel-Regierung nicht allein Richtlinie und Programm, sie hatte es vermocht, die erste konkrete Etappe dieses Konzepts in die Realität zu überführen.
Schlusswort
Die Rechnung der sozialliberalen Koalition (wie der Strategen des indirekten Vorgehens allgemein) ist deshalb aufgegangen, weil es gelang die Solidarität im sozialistischen Lager aufzubrechen und die kommunistischen Parteien(insbesondere die sowjetische Führung) in dem Irrglauben zu bestärken, der machtpolitische Status Quo sei derart unauflöslich befestigt, dass weder ideologischer Zerfall noch politische Erosion im Inneren der sozialistischen Gesellschaften ihn je wieder zu erschüttern vermöchten. Unbeantwortet bleibt die alles entscheidende Frage: Was hat die sozialistische Seite bewogen sich auf die Strategien der westlichen Länder einzulassen? Erst dadurch waren diese realisierbar.
Nachwort von Petra Reichel
Das Thema ist derart umfangreich und vielschichtig, dass hier nicht auf alle Facetten der Materie eingegangen werden kann. Es gibt dazu einen eigenen Blog, wo auf die Unterthemen eingegangen wird.
Pingback: Welche Rolle spielten DIE GRÜNEN in den Beziehungen BRD-DDR? | Kalter Krieg und "Entspannungspolitik"
Pingback: Erich Honecker zwischen den Stühlen | Kalter Krieg und "Entspannungspolitik"
Pingback: Der Dezember 1970 in Polen | Die Trommler