Im 2. Abschnitt des 3. Kapitels der StPO/DDR war geregelt, dass der Staatsanwalt und die Untersuchungsorgane(Ermittlungsbehörden) alle ihnen bekannt werdende Hinweise auf mögliche Straftaten gründlich zu überprüfen hatten, damit eine begründete Entscheidung über die Ein- oder Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens erfolgen konnte. Dadurch sollte gesichert werden, dass kein Hinweis verlorengeht. Andererseits wurde vom Gesetzgeber ausgeschlossen, dass die zuständigen staatlichen Organe (Behörden)leichtfertig und unbegründet Ermittlungsverfahren einleiteten.
Im Regelfall war es so, dass die dem Untersuchungsorgan(Ermittlungsbehörde) vorgelegten Informationen noch keine begründeten Entscheidungen über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zuließen und deshalb vorher strafprozessual zulässige Prüfungshandlungen auf der Grundlage des § 95 (2) StPO/DDR durchgeführt werden mussten. Hierbei wurden überwiegend gute Ergebnisse erzielt. Auch konnten dadurch Wege der Offizialisierung von inoffiziell erarbeiteten Beweismitteln eröffnet werden. (Durch Undercover-Tätigkeit erlangte Beweismittel waren in der DDR vor dem Gericht nicht anerkannt. Diese mussten entsprechend untermauert werden, dass sie vom Gericht anerkannt wurden. )Es konnte unverzüglich auf akute, Strafverdacht nahelegende Ereignisse, Gefahren und Störungen reagiert werden. Frühzeitig wurde somit eine begründete Differenzierung möglich – über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder gegebenenfalls auch die Einleitung eines Ordnungsstrafverfahrens, von Disziplinarverfahren etc. oder das Absehen von Zwangs- und Ordnungsmaßnahmen. Prüfungsmaßnahmen des Untersuchungsorgans(der Ermittlungsbehörde) wurden vorher sehr gründlich mit den zuständigen operativen Diensteinheiten(Geheimdienstabteilungen) abgeklärt, um z. B. zu verhindern, dass durch öffentlich bekannt werdende Befragungen Informationen an die Geheimdienstzentrale des Verdächtigten geraten und dadurch die gesamte operative Bearbeitung oder sogar Inoffizielle Mitarbeiter(Undercover Agierende) gefährdet werden. Andererseits sollten an Willkür grenzende leichtfertige Befragungen an Hand nur unzureichenden Verdachtsmaterials ausgeschlossen werden.
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Ermittlungsverfahren wurden im MfS mit einer schriftlichen Verfügung des Leiters des jeweiligen Untersuchungsorgans(Chef der jeweiligen Ermittlungsbehörde)eingeleitet. Für Außenstehende kann das zu dem Eindruck führen, dies sei der Beginn der Aufklärung eines Straftatverdachtes, wie das der Regelfall bei der Kriminalpolizei gewesen ist. Tatsächlich kennzeichnete die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens meist den Abschluss eines operativen Prozesses(Ermittlung mit geheimdienstlichen Mitteln) der Prüfung, Verdichtung und Vervollständigung von Ersthinweisen oder Merkmalen auf Straftaten, für deren Aufdeckung das MfS zuständig war.
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Die Erarbeitung ausreichender Verdachtsgründe war eines der Ziele der Bearbeitung Operativer Vorgänge(Ermittlungen mit geheimdienstlichen Methoden). Es entsprach dem Auftrag des MfS Straftaten gegen den Staat aufzuklären und zu unterbinden, Täter festzustellen und der Bestrafung zuzuführen.
War die zuständige operative Diensteinheit(Geheimdienstabteilung) in diesem Bearbeitungsprogramm zu der Einschätzung gelangt, dass die erarbeiteten Erkenntnisse für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichten, wurden die Dokumente (einschließlich eines Abschlussberichtes zu diesem Vorgang)der Hauptabteilung oder der Abteilung IX in der jeweiligen Bezirksverwaltung zur rechtlichen Prüfung und Einschätzung vorgelegt. Kamen diese zu dem Ergebnis, dass das vorgelegte Material für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichte, erhielt die operative Diensteinheit(Geheimdienstabteilung) eine schriftliche Einschätzung. Durch die operative Diensteinheit(Geheimdienstabteilung)wurde dann unter Zugrundelegung dieser Einschätzung dem zuständigen Vorgesetzten(bei einem vorgesehenen Ermittlungsverfahren mit Untersuchungshaft) ein interner Haftbeschluss zur Bestätigung vorgelegt – im Ministerium dem Minister, in den Bezirksverwaltungen dem Leiter. Erst nach Genehmigung des Haftbeschlusses konnte der Leiter der Hauptabteilung IX bzw. der Leiter der Bezirksverwaltung dann die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verfügen.
Dass geheimdienstliche und andere mit hoher Konspiration vorgetragene rechtswidrige Aktivitäten zunächst mit inoffiziellen Mitteln und Methoden aufgeklärt werden und der inoffiziell festgestellte Sachverhalt erst bei Vorliegen ausreichender Voraussetzungen Gegenstand eines offiziellen Strafverfahrens wird, entsprach und entspricht der Praxis der Abwehrtätigkeit in vielen Ländern, auch in der BRD. Es ist absurd daraus abzuleiten, es habe sich bei den Operativen Vorgängen des MfS um „Geheimermittlungsverfahren“ gehandelt oder aber bei den Ermittlungsverfahren um die Fortsetzung eines Operativen Vorganges. (geheimdienstlichen Vorgangs) Die beschriebene Praxis verhinderte vielmehr, dass rasch und leichtfertig offizielle Verdächtigungen ausgesprochen und damit Bürger belastet wurden. Das ist übrigens ein wesentlicher Grund für die geringe Anzahl von Verfahrenseinstellungen in durch das MfS geführten Ermittlungsverfahren.
Von den nach der Annexion der DDR durch die BRD von den Sonderstaatsanwaltschaften und anderen Polizei- und Justizorganen(-behörden) gegen ehemalige Bürger der DDR wegen angeblicher Regierungskriminalität eingeleiteten ca. 100.000 Ermittlungsverfahren mussten bis 2001 nach offiziellen Verlautbarungen weit über 90 Prozent eingestellt werden. Der Öffentlichkeit wird suggeriert, das liege an den begrenzten Möglichkeiten des Rechtsstaates. Tatsächlich konnten trotz bekannter extremer Rechtsauslegung und spezieller Regelungen für die neuen Bundesländer nicht die Verbrechen nachgewiesen werden, die sich mancher Fortsetzer des Kalten Krieges wünschte. Über die sozialen, finanziellen und psychischen Auswirkungen für die Betroffenen gelangt kaum ein Wort an die Öffentlichkeit – im Gegensatz zu den in der DDR rechtmäßig Verurteilten, die nach der Konterrevolution von der BRD rehabilitiert und finanziell entschädigt wurden.
Text: Karli Coburger und Dieter Skiba, bearbeitet von Petra Reichel
Entnommen aus dem Buch „Die Sicherheit“
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Original-Text:
Verdachtsprüfung und Einleitung Ermittlungsverfahren